Schachweltmeisterschaft 2024 – Partie 14, Zug 55. Tf2

Zur Vereinfachung habe ich mich entschlossen, hier nur die präzise Analyse der Computer-Engine einzustellen. Stockfish 16 war deshalb meine Wahl, weil es am effektivsten in dieser Stellung mit der vergleichsweise besten Rechenkapazität gearbeitet hat. Es ist schlicht so, das zahllose, auch zum Teil sehr starke Engines, im entscheidenden Moment den Vorteil von Schwarz zwar schnell erkennen und diesen zugleich auch hoch bewerten, wenn auch total unterschiedlich. Aber das schafft zuletzt keine in dem Sinne absolute Aussagekraft. Denke, das Problem liegt etwas tiefer. Diejenigen Engines, welche die Position nach dem 55. Zug von Weiß durchaus gut verstehen, dürften eher selten anzutreffen sein. In den überwiegenden Fällen ist hier fast ausschließlich reine Rechenkraft gefordert. Denn das im Prinzip eindeutige Ergebnis, womit Schwarz dieses Spiel letztlich gewinnt, liegt hinter dem Horizont der Mehrzahl jener Programme. Das mit dem Zug 55. Tf2, ein zwangsläufig verlorenes Bauernendspiel auf dem Brett vorliegt, ist, jedenfalls im ersten Moment, eher nicht in deren Radius.

Jetzt aber zur letzten und 14. Partie der Schachweltmeisterschaft 2024

Ding, Liren (2728) – Gukesh Dommaraju (2783)

WCC Match 2024 Singapore, 14. Partie, 12.12.2024

Analyse: Stockfish 16

Eröffnung: D02: Damenbauernspiele

1.Sf3 d5 2.g3 c5 3.Lg2 Sc6 4.d4 e6 5.0–0 cxd4 6.Sxd4 Sge7 letzter Buchzug

7.c4 Sxd4 8.Dxd4 Sc6 9.Dd1 d4 10.e3 Lc5 11.exd4 Lxd4 12.Sc3 0–0 13.Sb5 Lb6 14.b3 14…a6= 15.Sc3 Ld4 16.Lb2 e5 17.Dd2 Le6 18.Sd5 b5 19.cxb5 axb5 [Schlechter scheint 19…Lxd5 20.bxc6 Lxg2 21.Kxg2 Dd5+ 22.Kg1 Dxc6 23.Lxd4 exd4 24.Dxd4±] 20.Sf4 exf4 21.Lxc6 Lxb2 22.Dxb2 Schwarz hat neue Doppelbauern: den f4+f7 (hier aber ohne nennenswerten Nachteil)

22…Tb8 23.Tfd1 23…Db6 24.Lf3 fxg3 25.hxg3 b4 26.a4 bxa3 27.Txa3 g6 Überdeckt h5 (d.h. Feld strategisch gut abgedeckt)

28.Dd4 Db5 29.b4 Dxb4 30.Dxb4 Txb4 31.Ta8 Txa8 32.Lxa8 g5 33.Ld5 Lf5 34.Tc1 Kg7 35.Tc7 Lg6 36.Tc4 36…Tb1+ 37.Kg2 Te1 38.Tb4 h5 39.Ta4 Te5 40.Lf3 Kh6 41.Kg1 Te6 42.Tc4 g4 43.Ld5 43…Td6 44.Lb7 Kg5 45.f3 Es geht um e4 45…f5 46.fxg4 hxg4 Schwarz hat einen neuen rückständigen Bauern: den f5 (der ist weniger unterstützt)

47.Tb4 Lf7 48.Kf2 Td2+ 49.Kg1 Kf6 50.Tb6+ Kg5 51.Tb4 51…Le6 52.Ta4 Tb2 53.La8 Kf6 54.Tf4 Ke5 (Remisbreite, also immer noch alles im grünen Bereich)

55.Tf2?? Führt zur Niederlage [55.Ta4= einer der letzten Versuche] (oder Lg2, oder Tf1) Alle diese Züge halten Weiß im Spiel. Ta4 ist unverfänglich (neben vielen Engines zieht diesen auch der Mephisto Milano Pro). Hält jedenfalls die Balance. Lg2 bringt den weißen Läufer aus dem Abseits zurück ins Spiel (die Engine MadChess 2.2 würde beispielsweise die Partie so fortsetzen). Tf1 ist auch nach einer Analyse von Stockfish ohne Probleme spielbar (wäre vom Mephisto Berlin respektive dem DOS-Genius2-Programm die reguläre Fortsetzung). Eine Ausnahme bildet die CT800 Version 1.12 (die liegt bei über 2000 Elo). Obschon diese den Zug Tf2 nicht aktiv ausführen würde, bleibt sie in der Analyse bei Tb4 als Antwortzug hängen (damit wäre die Partie ins Remis zurück verflacht) und (Ding Liren hätte sich gefreut) weicht von diesem auch nach einigen Minuten nicht ab. Die korrekte Reaktion Txf2 wird nur in den ersten 10-15 Sekunden als Favorit gerechnet.

Der Grund für das verfrühte Abweichen von der richtigen Lösung würde mich allerdings interessieren.

55…Txf2 [55…Txf2 56.Kxf2 Ld5 57.Lxd5 Kxd5 58.Ke1 Ke5 59.Kd1 f4 60.Ke2 f3+ 61.Ke3 f2 62.Kxf2 Kd4 63.Ke2 Ke4 64.Kf2 Kd3 65.Kg1 Ke3 66.Kg2 Ke2 67.Kg1 Kf3 68.Kh2 Kf2 69.Kh1 Kxg3 70.Kg1 Kh3 71.Kf2 g3+ 72.Kf1 Kh2 73.Ke2 g2 74.Kd3 Kg3 75.Kc4 Kf4 76.Kd4 g1D+ 77.Kd5 Db6 78.Kc4 Ke4 79.Kc3 Dc5+ 80.Kb2 Kd3 81.Kb3 Db5+ 82.Ka2 Kc3 83.Ka1 Db2#] Die vorliegende Analyse bis zum Matt durch das Programm „Stockfish 16“

(tatsächliche Fortsetzung der Partie) 56.Kxf2 Ld5 57.Lxd5 Kxd5 58.Ke3 Ke5 (Ergebnis: 0–1)

Fokussiert auf einen bevorstehenden Tiebreak kam für die Schachgemeinde dieses vorzeitige Ende überraschend. Die Erwartungen lagen zuletzt fast nahezu auf einem 7:7 nach Ausspielen der klassischen Partien. Wie buchstäblich in letzter Sekunde die Situation so fatal kippen konnte, lässt den Außenstehenden eher ratlos zurück. Selbst ein Mephisto Modular mit dem Rechenmodul I, der nur eine Amateurspielstärke von etwas mehr als 1500 Elo aufweist, bevorzugt in dieser Stellung den Zug 55. Lg2 – und der ist definitiv kein Rechenkünstler in Endspielen, von denselben dieser auch nur wenig tatsächliches Verständnis hat. Zu betonen bleibt übrigens trotzdem, das der Modular I und auch nicht wenige andere Schachcomputer der frühen Achtzigerjahre, es fertigbringen, nach anfangs starken Fortsetzungen den Sieg auszulassen oder die Stellung ins Remis verflachen zu lassen – je nachdem.

Gukesh Dommaraju ist jetzt mit 18 Jahren der jüngste Schachweltmeister und gleichzeitig der 18. Amtierende seit 1886).

Congratulation!